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  Beschreibungen

zitiert aus: Wolfram Adolph:

Die "Wunderorgel" im Hans-Sachs-Haus zu Gelsenkirchen. In: Organ. Journal für die Orgel 2001:1, S. 22-28
gleichzeitig veröffentlicht unter:
http://www.schott-international.com/cms/php/Proxy.php/
de_DE/smi/produkte/Publikationen/organ/Archiv/show,3179.html

Die "Wunderorgel" im Hans-Sachs-Haus zu Gelsenkirchen

Konzertsaal und -orgel des Hans-Sachs-Hauses (1927) werden nach originalem Vorbild restauriert

von Wolfram Adolph

Die Bauidee des Hans-Sachs-Hauses

"Die formgestaltende Kraft der Architektur kommt heute wohl nirgends stärker zur Geltung als im Industriegebiet. Markante moderne Bauten bilden die Marksteine einer neuen städtebaulichen Entwicklung. Der Baukünstler prägt das neue Gesicht dieser Industriestädte." So zu lesen in der April-Ausgabe der Monatshefte für Architektur und Raumkunst "Moderne Bauformen" des Jahrgangs 1930,1 gemünzt auf die während der zwanziger Jahre entstandenen rationalen Zweckbauten des dem Bauhaus aufs Engste verpflichteten Essener Architekten Alfred Fischer. 1921 ging Fischer aus dem durch die Stadt Gelsenkirchen ausgeschriebenen Architektenwettbewerb für ein großstädtisches Kultur- und Verwaltungszentrum (heutiges Hans-Sachs-Haus) als Sieger hervor. Die Aufgabenstellung wurde schon in der Namensgebung "Hans-Sachs-Haus" - mit Anspielung auf Wagners Meistersingerfigur, in der sich tätiges Handwerk und Kunstsinn in einer selbstbewussten und repräsentativen Weise verbinden - versinnbildlicht.

Noch heute ist das Hans-Sachs-Haus der offizielle Amtssitz der knapp 300000 Einwohner zählenden Industriestadt an der Ruhr. Die wirtschaftlich damals rasant aufblühende Großstadt hatte mit einem Mal ihr urbanes Zentrum gewonnen. Aus dem Durcheinander zufällig entstandener und unübersichtlich entwickelter Industrie- und Wohngruppen erhebt sich seit 1927 der imposante Baukörper und bildet mit der zwingenden Sachlichkeit eines funktional ausgerichteten, architektonischen Organismus von da ab den Maßstab einer künftigen städtebaulichen Konzentration. Die architektonisch-funktionale Konzeption des Hans-Sachs-Hauses war bis dato in Deutschland einzigartig und vermochte paradigmatisch hinsichtlich der Entwicklung der Stadtarchitektur der späten zwanziger und dreißiger Jahre zu wirken. So resümmierten die Monatshefte für Architektur und Raumkunst anerkennend: "Das Stadtbild von Gelsenkirchen, soweit man von einem solchen überhaupt sprechen kann [damals knapp 400000 Einwohner!], hat durch den Bau des Hans-Sachs-Hauses erst sein Gesicht bekommen, es ist hier das erste konsequente Bekenntnis zur Großstadt."2

1922 wurde ein zweiter Wettbewerb ausgeschrieben: Im Binnenhof der dreiflügligen getürmten Anlage sollte ein Konzertsaal großen Ausmaßes eingebaut werden. Wieder war es der Essener Architekturprofessor Alfred Fischer, dem der erste Preis zugesprochen wurde.

Das Hans-Sachs-Haus, 1927 vollendet, war zunächst als reines Verwaltungs- und Bürogebäude geplant. Aus Erwägungen zu Gunsten einer konsequenten Stadtentwicklung heraus sollte der Baukomplex durch die Ansiedlung von Privatbüros, Ladengeschäften, der Stadtbibliothek, eines öffentlichen Cafés, Restaurants, gar eines Hotels und endlich eines Konzertsaals neben den städtischen und staatlichen Verwaltungsorganen "belebt" werden.

Alfred Fischer gelang angesichts dieser Herausforderung funktionaler Komplexität gleichwohl ein ganz und gar organischer Baukörper. Noch heute beeindruckt den Betrachter die Geschlossenheit in der Gesamtwirkung. Eine strenge Durchführung der Horizontalen und die Verwendung eines hartgebrannten dunkelroten Klinkermaterials - ohne ornamentale Redundanz - stehen in direkter Beziehung zum Zweckbaugedanken der nüchternen Bauhaus-Ästhetik. Die durchlaufenden Fenstersturz- und Fensterbankprofile sind aus glasierter Keramik gefertigt. Über dem Kupfervordach vor den Erdgeschoßläden umspannt in großer Linie ein hoher Fries aus Luxferprismen, die Tageslicht in die Ladenräume einlassen, den Bau. Am nördlichen Ende wird der Kubus durch einen Turm über dem (einstigen) Hotelkomplex überhöht. Im Gegensatz zu den Binnenprofilen aus Keramik wurden die Hauptgesimse mit Kupfer verkleidet.

Der Konzertsaal (Hans-Sachs-Saal)

Das innenarchitektonische Herzstück der baulichen Anlage bildet der große, ca. 1600 Besucher fassende Konzertsaal. Zweckbedingtheit und konsequente Materialverwertung - der gesamte Saal (inklusive der Deckengestaltung) wurde mit wertvollen tropischen Edelhölzern getäfelt, unten dunkler, nach oben hin heller - haben hier einen Konzert- und Festsaal von nüchterner Eleganz entstehen lassen. Das Podium bietet Platz für rund 300 Personen. Zu einem Bühnenraum solch großer Ausmaße sollten denn auch die Räume für Dirigenten, Solisten, Orchestermusiker und Chor geschaffen werden. Alle diese Künstler- und sonstigen Nebenräume sind von der Bühne aus auf kürzestem Wege zu erreichen. Da der Saal nicht als Mehrzweckhalle, sondern von Anbeginn als reiner Konzertsaal gedacht war, galt größte planerische Sorge der Erzielung einer erstklassigen Konzertsaalakustik. Selbst die herabhängenden, drei Meter hohen, zwischen den Fensterfriesen eingespannten Holzschürze geben der Decke eine deutliche Querteilung, die keineswegs statisch, sondern ausschließlich akustisch begründet ist.

Die Konzertorgel von Eberhard Friedrich Walcker - Opus 2150

Mit der Errichtung eines großen Konzertsaals und der konsequenten Berücksichtigung aller musikalisch-akustischer Erfordernisse bestand von Anfang der Planungen an der explizite Wunsch nach einer modernen Konzertorgel, die in ihren Größenverhältnissen dem Saal angepasst sein sollte. Klanglich musste sie möglichst vielfältigen musikalischen Bedürfnissen des modernen Konzertlebens gerecht werden. Der Bau dieser großen Renommierorgel wurde dem damals größten und international gleichzeitig erfolgreichsten deutschen Orgelbauunternehmen, der in Ludwigsburg bei Stuttgart ansässigen Werkstatt Eberhard Friedrich Walcker & Co., übertragen. Walcker errichtete daraufhin in Gelsenkirchen sein Opus 2150.

Es entstand eine Orgel mit mächtigem, charakteristisch-grundtönigem Klangfundament auf dreifacher 32'-Grundlage, mit den typischen Kraft und Glanz spendenden, an Cavaillé-Coll erinnernden Walckerzungen der Vorkriegsperiode, die das Klangfundament ihrerseits beträchtlich ausdehnen. Die beiden großen Walcker-Instrumente in der Dortmunder Reinoldi-Kirche von 1909 und in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis von 1912 (s. Abb. S. 26) hatten bereits Orgelgeschichte geschrieben, indem sie den Beginn der Reform des Orgelbaus in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts markierten. Für die Erörterung und detailgenaue Durcharbeitung aller baulichen Einzelfragen zur Hans-Sachs-Orgel zwischen der Werkstatt und dem von der Stadt berufenen Sachverständigen stand gut ein Jahr zur Verfügung. Folgende Zentralkriterien prägten das orgelbauliche Konzept:

Gebrauch der Orgel mit großem Orchester und/oder Chor
Zu diesem Zweck musste das Instrument über hinreichend sonore Fülle und Tragfähigkeit des Klangs gebieten. Bei Oratorienaufführungen musste neben dem etwa 70- bis 90-köpfigen Orchester mit bis zu 250 SängerInnen zusätzlich gerechnet werden (in den zwanziger und dreißiger Jahren wurden Bachs oder Händels Oratorien in den städtischen Konzerthallen selten mit weniger Chor-SängerInnen aufgeführt). Die Orgel sollte nicht in der Klangmasse des Orchesterklangs versinken, sondern stets in der Lage sein, zu führen und selbst das Tutti, wenn erforderlich, noch zu beherrschen. Gleichzeitig musste die Mensurierung und Intonation der Register so beschaffen sein, dass die Orgel trotz Fülle des Klangs durch Weichheit mit dem übrigen Tonkörper möglichst bruchlos verschmilzt. Insbesondere musste eine ausreichende Pedalwirkung die tragfähige Bassgrundlage für einen solchen Gesamtklang abgeben.

Konzertanter, solistischer Gebrauch der Orgel
Zu diesem Zweck musste die Orgel mit Rücksicht auf das gesamte stilistische Spektrum des Konzertrepertoires (Ende der zwanziger Jahre erwachte infolge der Orgelreform sehr stark das Interesse an der Orgelmusik des Früh- und Hochbarock) eine gut durchgestaltete, möglichst differenzierte Disposition mit charakteristischen und solofähigen Einzelstimmen aufweisen. Insbesondere sollte - im Zuge der ästhetischen Grundentscheidungen und -vorgaben der Orgelreform - die Darstellung polyfoner Textur nicht a priori unmöglich sein. Der überwiegende Großteil der während der vorausgegangenen Jahrzehnte in Deutschland entstandenen Saalorgeln eignete sich hierfür in keiner Weise.

Die im Tagungsbericht der Freiburger Tagung für Deutsche Orgelbaukunst 1926 (Schwerpunktthema: Orgelbau des 16. bis 18. Jahrhunderts)3 mitgeteilten Forschungsergebnisse über den barocken Orgelbau in Deutschland fanden auf direktem Weg erst in der Walcker-Orgel des Saalbaus zu Recklinghausen sowie beim Bau der von Furtwängler & Hammer in der Göttinger Marienkirche erbauten Orgel ihren praktischen Niederschlag. Beide Instrumente wurden 1926 unmittelbar nach Abschluss der Freiburger Tagung vollendet. Die hier gewonnenen, damals neuesten theoretischen (und praktischen) Erfahrungen fanden bei Planung des Instruments für den Hans-Sachs-Saal erkennbar Eingang. In der Reduktion ausgesprochen weitmensurierter Grundstimmen, der konsequenten Disposition charakteristischer, kerniger Prinzipalstimmen als klanglichem Rückgrat des Labialplenums, nebst einer Vielfalt von solofähigen Einzelaliquoten sowie in der Vermeidung der Anhäufung von ähnlich oder gleich klingender Stimmen - in der Weise, dass sich die einzelnen Manualwerke nur noch durch Lautstärke unterscheiden - setzte Walcker die in Freiburg erhobenen Forderungen hier in die Tat um.

Die Klangcharakteristik der Werke im Einzelnen

Die Orgel erhielt 91 klingende Stimmen (5841 Pfeifen) nebst einer Reihe von Transmissionen auf Hauptwerk, vier Schwellwerke (inkl. Fernwerk) sowie Groß- und Kleinpedal verteilt. Damit war die Konzertsaalorgel des Hans-Sachs-Hauses eine der größten von Walcker erbauten Orgeln. Vom vierten Manual aus konnte das auf 16'-Grundlage aufgebaute Bombardenwerk und ebenso - durch einfache Fußhebelumschaltung - das in der Dachkonstruktion verborgene Fernwerk angespielt werden. Bei dieser Umschaltung verstummte automatisch das Pedal der Hauptorgel und es erklangen die sanften Pedalstimmen des Fernwerks.

Die Klangcharakteristik der einzelnen Teilwerke kann wie folgt skizziert werden:

  • I. Manual (C-c'''')
    Fülliger, aber dennoch verschmelzungsfähig-weicher sowie transparenter Grundklang; die 15 klingenden Stimmen dieses Manuals sind in Mensurierung und Bauart überwiegend nach Originalmensuren Gottfried Silbermanns (1683-1753) konstruiert (und intoniert) und sollten somit die Grundvoraussetzung für ein konzertantes Bachspiel schaffen.
  • II. Manual (C-c''''')
    Im Kontrast zu Manual I: aufgehellt-flötiger Charakter; das mit 18 Stimmen reichbesetzte Teilwerk enthält sämtliche Obertöne als Einzelaliquote, lückenlos ausgebaut bis zum 1-Fuß.
  • III. Manual (C-c''''')
    Leicht streichender Charakter, die Mensuren sind allerdings nicht so eng gewählt, dass die Verschmelzungsfähigkeit mit den übrigen Teilwerken infrage gestellt wäre; es enthält 16 Stimmen.
  • IV. Manual (C-c''''')
    Hier finden sich vornehmlich diejenigen Stimmen, die dem Plenum der Orgel majestätische Kraft verleihen (in erster Linie die großen Zungen Bombarde, Posaune, Trompete). Durch diese Aufteilung behalten die übrigen drei Manuale ihre durchsichtige Klarheit. Unter den 13 Registern befindet sich als Schlagwerk eine Celesta (Stahlplattenklavier), das in modernen Orchesterpartituren öfter verlangt wird, häufig jedoch auch in großen Saalorgeln fehlt.
  • Pedal C-g'
    Das Pedal ist gemäß seiner doppelten Zweckbestimmung als orchestrales Bassfundament und als solistisches Orgelpedal mit 19 Stimmen das am aufwendigsten besetzte Werk der Orgel. Es verfügt über drei 32'-Register; besonderer Wert wurde auf den Ausbau des Zungenchors gelegt (6 Pedalzungen!).
  • IV. Fernwerk (C-a'''')
    Dem Fernwerk eignete ein besonders lichter bis ätherischer Klang; es verfügte über neun Register, darunter zwei Zungenstimmen. Auch die beiden Pedalregister des Fernwerks sind betont weich intoniert (darunter eine lyrische Zunge).

Um insbesondere auch vorbachsche Orgelmusik in charakteristischer Weise darstellen zu können, wurden elf Stimmen teils nach Vorgaben von Michael Praetorius (1571-1621) und teils nach den alten Mensuren der Johannis-Orgel zu Lüneburg gefertigt. Die deutsche Orgelbewegung hatte nicht nur das wiedererwachende Interesse an den alten Meistern, sondern auch die damit verbundene Wiederbelebung des früh- und hochbarocken Registerbaus bewirkt. Ein wichtiger orgelbaugeschichtlicher Anstoß ging hierbei von der 1921 in der Werkstatt E. F. Walcker auf Anregung des Freiburger Musikwissenschaftlers Wilibald Gurlitt für das dortige Musikwissenschaftliche Universitätsinstitut erbauten Praetorius-Orgel (22/II/P) aus. 14 weitere Register (HW) der Hans-Sachs-Orgel wurden - wie bereits erwähnt - nach Mensuren des Bach-Zeitgenossen Gottfried Silbermann gefertigt.

Die technische Anlage der Orgel

Die technische Anlage der großen Konzertorgel stellt für sich selbst ein Kunstwerk dar. Die Architekten legten Wert darauf, dass "ein solches feinsinniges, kompliziertes Werk" aus Gründen der Funktionssicherheit und zum Schutz vor leichtfertig herbeigeführten Beschädigungen durch Unbefugte der Allgemeinheit unzugänglich blieb. Als raumabschließendes bzw. raumkrönendes Schaustück war sie nicht gedacht. Insbesondere wurde wegen des nüchternen Geists der Gesamtarchitektur von der Installation sonst häufig gebrauchter Pfeifenattrappen in einem stummen Scheinprospekt Abstand genommen. Das eigentliche Pfeifenwerk bleibt somit hinter hölzernen Lamellen vor den Blicken des Publikums verborgen. Der Klang findet seinen Weg aus den drei gemauerten, geräumigen Orgelkammern, die eine enorme Schwellwirkung erzielen, durch doppelte Holzjalousien auf der Stirnseite und den seitlichen Flanken des Bühnenraums. Das gänzlich unsichtbare Fernwerk leitet seinen Schall durch einen Holzkanal über der Saaldecke bis zu dort angeordneten Einfalljalousien.

Der Windversorgung dienten ursprünglich drei elektrische Gebläse, von denen zwei zur Windversorgung der Hauptorgel, das dritte für das Fernwerk eingesetzt waren. Als einzigartiges Charakteristikum im deutschen Orgelbau dieser Zeit seien hier nochmals die vier voneinander unabhängigen Schwellwerke der Orgel zu nennen. Außer dem Hauptwerk und dem Großpedal befinden sich sämtliche Register (II; III; IV; IV Fernwerk/Man/P) im Schweller!

Der Spieltisch von 1927

Die gleichfalls durch das Prinzip "Sachlichkeit und Reduktion" gekennzeichnete Spieltischgestaltung der Hans-Sachs-Orgel verrät eine Abkehr von den mit zahllosen technischen Accessoires überfrachteten Spielanlagen der vorausgegangen "Fabrikorgeln". Der klanglich stringenten Durcharbeitung des Orgelwerks sollte, wie schon durch Cavaillé-Coll gefordert, eine klare Gliederung des mit poliertem schwarzen Flügellack überzogenen Spieltischs entsprechen.

Die auf der Bühne zu allen Zwecken frei bewegliche fahrbare Spielanlage war rein elektrisch ausgelegt. Der Strom für die elektrische Traktur wurde von einer kleinen Schwachstrommaschine erzeugt, eine zweite Reservemaschine diente ersatzweise als Sicherung. Alle Koppeln wurden sowohl als Pistons und in Wechselwirkung mit jenen zugleich als Druckknöpfe zwischen den Manualen gebaut. Ebenso erhielt der Spieltisch eine Walze für das Registercrescendo/-decrescendo. Rechts davon waren die Schwelltritte als Balanciers angeordnet. Erwähnenswert erscheint für damalige Verhältnisse auch die "automatische Pedalumschaltung", infolge derer sich die Klangfarbe des Pedals selbsttätig in eine zuvor frei programmierbare und einem bestimmten Nebenmanual angepasste Registerkombination wandelt, sobald der Spieler nur eine einzige Taste dieses Manuals berührt; dazu kamen die üblichen Abstoßer (als Druckknöpfe) zur sofortigen Auflösung programmierter Kombinationen infolge einfacher Betätigung. Zum ersten Mal wirkten - aus Gründen optimierter Übersichtlichkeit - in einer deutschen Konzertorgel alle Spielhilfen "positiv" nach dem "System Jung", d. h. konsequent positiv nur in eine Richtung.

Würdigung

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Konzertorgel des Hans-Sachs-Hauses in der wohlkalkulierten Registerwahl, differenzierten Mensurierung (z. T. nach historischen Originalvorbildern bzw. -quellen) und der konsequenten Aufteilung des Pfeifenwerks im Sinne des charakteristischen Werkgedankens den beachtenswerten Versuch einer universalen Konzertorgel großen Stils darstellte, angeregt durch den Reformgedanken im deutschen Orgelbau der späteren zwanziger Jahre. Zudem wurde hier eines der wenigen Instrumente in Deutschland geschaffen, das ohne Abstriche als ebenbürtiger Partner des modernen Symphonieorchesters größter Besetzung eingesetzt werden konnte. Die Presse pries nach der Einweihung durch Günter Ramin (Leipzig) das klanglich und technisch fortschrittliche Werk überschwenglich als "Wunderorgel".

Das architektonisch kohärent durchgebildete Ensemble von Hans-Sachs-Haus, Hans-Sachs-Saal und Konzertorgel erfuhr bezüglich seiner ursprünglich abgestimmten Homogenität im Laufe der Jahrzehnte diverse Veränderungen. Nachdem die Orgel während des Krieges aus Sicherheitsgründen vollständig ausgelagert und 1949 von der Erbauerfirma unversehrt wieder eingebaut wurde - das Einweihungskonzert gestaltete Helmut Walcha aus Leipzig -, kam es während der Nachkriegsjahrzehnte mehrfach zu Teilumgestaltungen. 1974 erfuhr der Konzertsaal einschneidende innenarchitektonische Modifikationen, im Rahmen derer das romantische Fernwerk entfernt wurde (der Titularorganist von Notre-Dame de Paris, Pierre Cochereau, weihte die renovierte Orgel ein). Dieses Fernwerk wird jedoch während der noch 2001 beginnenden dreijährigen Restaurierungsphase von Saal und Orgel an seinen ursprünglich angestammten Ort zurückkehren.

75 Jahre Orgelgeschichte, Auslagerung und Wiedereinbau nach dem Krieg sowie jahrzehntelanger Betrieb sind an der heute unter Denkmalschutz stehenden Orgel nicht vorbeigegangen, ohne verschleißbedingte Schäden zu hinterlassen. Die schadhafte Technik erzwang Renovierungsmaßnahmen, die Anfang der achziger Jahre unter der Federführung des derzeitigen Kustos der Orgel, Karl-Heinz Obernier, von der Erbauerfirma Walcker ausgeführt wurden. Die alte elektropneumatische Traktur wurde 1982 durch eine dem damaligen Stand modernster Technik entsprechende elektrische Anlage, einschließlich einem neuen elektrischen Spieltisch mit Setzeranlage und modernen Spielhilfen ersetzt. Die gültige Dispositionsgestalt datiert aus dem Jahr 1989. Die vergleichsweise unzuverlässigen Taschenladen wurden durch mechanische Schleifladen ersetzt, was den Reformintentionen der geistigen Väter der 20er Jahre zusätzlich entgegenkam. Der historische Pfeifenbestand der Orgel ist bis auf das Fernwerk in der Substanz nahezu vollständig erhalten geblieben.

Ausblicke - der Orgelwettbewerb

Im Herbst 2003 werden sich Orgel und Saal nach gründlicher denkmalgerechter Sanierung wieder weitgehend im Zustand von 1927 präsentieren. Der geschätzte Kostenaufwand hierfür beläuft sich insgesamt auf knapp 50 Millionen Mark. Dazu wird nicht zuletzt auch die detailgetreue Rekonstruktion des originalen - bei Bedarf im Bühnenboden versenkbaren - Walcker-Spieltischs von 1927 in schwarzem Flügellack gehören. Erfahrene Spezialisten (Intonateure) sollen gemeinsam mit der Firma Walcker (Kleinblittersdorf) die sorgfältige Klangrestaurierung und die Neuintonation des auch künftig auf Schleiflade stehenden, fast hundertregistrigen Riesenwerks besorgen. Damit soll den sechs Teilwerken mit ihren knapp 6000 klingenden Pfeifen der einstige, nachromantische Klangzauber möglichst in vollem Umfang zurückgegeben werden, der dem Instrument einst die respektvoll-staunende Bezeichnung als "Wunderorgel" eingetragen hatte.

Schon in den zurückliegenden Jahrzehnten genoss das Instrument in der Fachwelt den Ruf einer geradezu idealen Reger-Orgel und dient der Stadt Gelsenkirchen seit 1993 als würdiges Austragungsinstrument des im dreijährigen Turnus veranstalteten Internationalen Orgelwettbewerbs. Insbesondere dieser große Wettbewerb, der sich 1999 zum dritten Mal seit der Gründung durch Karl-Heinz Obernier breitester internationaler Resonanz erfreut, dürfte von der gegenwärtig ins Werk gesetzten Sanierung von Saal und Orgel in großem Umfang profitieren, wenn es dann mit Recht heißen wird: Die schönste und größte Saalorgel Deutschlands steht heute im Hans-Sachs-Saal in Gelsenkirchen.

Anmerkungen:
1 Wilhelm Kästner: "Das Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen und das Verwaltungsgebäude des Ruhrsiedlungsverbands in Essen", Vorwort in: "Moderne Bauformen" - Monatshefte für Architektur und Raumkunst, 1930, Jahrgang 29, S. 149-152.
2 ebenda, S. 150.
3 Bärenreiter 1926.

   

 

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