Die "Wunderorgel" im Hans-Sachs-Haus zu Gelsenkirchen
Konzertsaal und -orgel des Hans-Sachs-Hauses (1927) werden nach originalem
Vorbild restauriert
von Wolfram Adolph
Die Bauidee des Hans-Sachs-Hauses
"Die formgestaltende Kraft
der Architektur kommt heute wohl nirgends stärker zur Geltung als im
Industriegebiet. Markante moderne Bauten bilden die Marksteine einer
neuen städtebaulichen Entwicklung. Der Baukünstler prägt das neue Gesicht
dieser Industriestädte." So zu lesen in der April-Ausgabe der Monatshefte
für Architektur und Raumkunst "Moderne Bauformen" des Jahrgangs 1930,1
gemünzt auf die während der zwanziger Jahre entstandenen rationalen
Zweckbauten des dem Bauhaus aufs Engste verpflichteten Essener Architekten
Alfred Fischer. 1921 ging Fischer aus dem durch die Stadt Gelsenkirchen
ausgeschriebenen Architektenwettbewerb für ein großstädtisches Kultur-
und Verwaltungszentrum (heutiges Hans-Sachs-Haus) als Sieger hervor.
Die Aufgabenstellung wurde schon in der Namensgebung "Hans-Sachs-Haus"
- mit Anspielung auf Wagners Meistersingerfigur, in der sich tätiges
Handwerk und Kunstsinn in einer selbstbewussten und repräsentativen
Weise verbinden - versinnbildlicht.
Noch heute ist das Hans-Sachs-Haus der offizielle
Amtssitz der knapp 300000 Einwohner zählenden Industriestadt an der
Ruhr. Die wirtschaftlich damals rasant aufblühende Großstadt hatte mit
einem Mal ihr urbanes Zentrum gewonnen. Aus dem Durcheinander zufällig
entstandener und unübersichtlich entwickelter Industrie- und Wohngruppen
erhebt sich seit 1927 der imposante Baukörper und bildet mit der zwingenden
Sachlichkeit eines funktional ausgerichteten, architektonischen Organismus
von da ab den Maßstab einer künftigen städtebaulichen Konzentration.
Die architektonisch-funktionale Konzeption des Hans-Sachs-Hauses war
bis dato in Deutschland einzigartig und vermochte paradigmatisch hinsichtlich
der Entwicklung der Stadtarchitektur der späten zwanziger und dreißiger
Jahre zu wirken. So resümmierten die Monatshefte für Architektur und
Raumkunst anerkennend: "Das Stadtbild von Gelsenkirchen, soweit man
von einem solchen überhaupt sprechen kann [damals knapp 400000 Einwohner!],
hat durch den Bau des Hans-Sachs-Hauses erst sein Gesicht bekommen,
es ist hier das erste konsequente Bekenntnis zur Großstadt."2
1922 wurde ein zweiter Wettbewerb ausgeschrieben:
Im Binnenhof der dreiflügligen getürmten Anlage sollte ein Konzertsaal
großen Ausmaßes eingebaut werden. Wieder war es der Essener Architekturprofessor
Alfred Fischer, dem der erste Preis zugesprochen wurde.
Das Hans-Sachs-Haus, 1927 vollendet, war zunächst
als reines Verwaltungs- und Bürogebäude geplant. Aus Erwägungen zu Gunsten
einer konsequenten Stadtentwicklung heraus sollte der Baukomplex durch
die Ansiedlung von Privatbüros, Ladengeschäften, der Stadtbibliothek,
eines öffentlichen Cafés, Restaurants, gar eines Hotels und endlich
eines Konzertsaals neben den städtischen und staatlichen Verwaltungsorganen
"belebt" werden.
Alfred Fischer gelang angesichts dieser Herausforderung
funktionaler Komplexität gleichwohl ein ganz und gar organischer Baukörper.
Noch heute beeindruckt den Betrachter die Geschlossenheit in der Gesamtwirkung.
Eine strenge Durchführung der Horizontalen und die Verwendung eines
hartgebrannten dunkelroten Klinkermaterials - ohne ornamentale Redundanz
- stehen in direkter Beziehung zum Zweckbaugedanken der nüchternen Bauhaus-Ästhetik.
Die durchlaufenden Fenstersturz- und Fensterbankprofile sind aus glasierter
Keramik gefertigt. Über dem Kupfervordach vor den Erdgeschoßläden umspannt
in großer Linie ein hoher Fries aus Luxferprismen, die Tageslicht in
die Ladenräume einlassen, den Bau. Am nördlichen Ende wird der Kubus
durch einen Turm über dem (einstigen) Hotelkomplex überhöht. Im Gegensatz
zu den Binnenprofilen aus Keramik wurden die Hauptgesimse mit Kupfer
verkleidet.
Der Konzertsaal (Hans-Sachs-Saal)
Das innenarchitektonische Herzstück der baulichen
Anlage bildet der große, ca. 1600 Besucher fassende Konzertsaal. Zweckbedingtheit
und konsequente Materialverwertung - der gesamte Saal (inklusive der
Deckengestaltung) wurde mit wertvollen tropischen Edelhölzern getäfelt,
unten dunkler, nach oben hin heller - haben hier einen Konzert- und
Festsaal von nüchterner Eleganz entstehen lassen. Das Podium bietet
Platz für rund 300 Personen. Zu einem Bühnenraum solch großer Ausmaße
sollten denn auch die Räume für Dirigenten, Solisten, Orchestermusiker
und Chor geschaffen werden. Alle diese Künstler- und sonstigen Nebenräume
sind von der Bühne aus auf kürzestem Wege zu erreichen. Da der Saal
nicht als Mehrzweckhalle, sondern von Anbeginn als reiner Konzertsaal
gedacht war, galt größte planerische Sorge der Erzielung einer erstklassigen
Konzertsaalakustik. Selbst die herabhängenden, drei Meter hohen, zwischen
den Fensterfriesen eingespannten Holzschürze geben der Decke eine deutliche
Querteilung, die keineswegs statisch, sondern ausschließlich akustisch
begründet ist.
Die Konzertorgel von Eberhard Friedrich Walcker - Opus 2150
Mit der Errichtung eines großen Konzertsaals und der
konsequenten Berücksichtigung aller musikalisch-akustischer Erfordernisse
bestand von Anfang der Planungen an der explizite Wunsch nach einer
modernen Konzertorgel, die in ihren Größenverhältnissen dem Saal angepasst
sein sollte. Klanglich musste sie möglichst vielfältigen musikalischen
Bedürfnissen des modernen Konzertlebens gerecht werden. Der Bau dieser
großen Renommierorgel wurde dem damals größten und international gleichzeitig
erfolgreichsten deutschen Orgelbauunternehmen, der in Ludwigsburg bei
Stuttgart ansässigen Werkstatt Eberhard Friedrich Walcker & Co., übertragen.
Walcker errichtete daraufhin in Gelsenkirchen sein Opus 2150.
Es entstand eine Orgel mit mächtigem, charakteristisch-grundtönigem
Klangfundament auf dreifacher 32'-Grundlage, mit den typischen Kraft
und Glanz spendenden, an Cavaillé-Coll erinnernden Walckerzungen der
Vorkriegsperiode, die das Klangfundament ihrerseits beträchtlich ausdehnen.
Die beiden großen Walcker-Instrumente in der Dortmunder Reinoldi-Kirche
von 1909 und in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis von 1912 (s.
Abb. S. 26) hatten bereits Orgelgeschichte geschrieben, indem sie den
Beginn der Reform des Orgelbaus in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts
markierten. Für die Erörterung und detailgenaue Durcharbeitung aller
baulichen Einzelfragen zur Hans-Sachs-Orgel zwischen der Werkstatt und
dem von der Stadt berufenen Sachverständigen stand gut ein Jahr zur
Verfügung. Folgende Zentralkriterien prägten das orgelbauliche Konzept:
Gebrauch der Orgel mit großem Orchester und/oder
Chor
Zu diesem Zweck musste das Instrument über hinreichend sonore Fülle
und Tragfähigkeit des Klangs gebieten. Bei Oratorienaufführungen musste
neben dem etwa 70- bis 90-köpfigen Orchester mit bis zu 250 SängerInnen
zusätzlich gerechnet werden (in den zwanziger und dreißiger Jahren wurden
Bachs oder Händels Oratorien in den städtischen Konzerthallen selten
mit weniger Chor-SängerInnen aufgeführt). Die Orgel sollte nicht in
der Klangmasse des Orchesterklangs versinken, sondern stets in der Lage
sein, zu führen und selbst das Tutti, wenn erforderlich, noch zu beherrschen.
Gleichzeitig musste die Mensurierung und Intonation der Register so
beschaffen sein, dass die Orgel trotz Fülle des Klangs durch Weichheit
mit dem übrigen Tonkörper möglichst bruchlos verschmilzt. Insbesondere
musste eine ausreichende Pedalwirkung die tragfähige Bassgrundlage für
einen solchen Gesamtklang abgeben.
Konzertanter, solistischer Gebrauch der Orgel
Zu diesem Zweck musste die Orgel mit Rücksicht auf das gesamte stilistische
Spektrum des Konzertrepertoires (Ende der zwanziger Jahre erwachte infolge
der Orgelreform sehr stark das Interesse an der Orgelmusik des Früh-
und Hochbarock) eine gut durchgestaltete, möglichst differenzierte Disposition
mit charakteristischen und solofähigen Einzelstimmen aufweisen. Insbesondere
sollte - im Zuge der ästhetischen Grundentscheidungen und -vorgaben
der Orgelreform - die Darstellung polyfoner Textur nicht a priori unmöglich
sein. Der überwiegende Großteil der während der vorausgegangenen Jahrzehnte
in Deutschland entstandenen Saalorgeln eignete sich hierfür in keiner
Weise.
Die im Tagungsbericht der Freiburger Tagung für Deutsche
Orgelbaukunst 1926 (Schwerpunktthema: Orgelbau des 16. bis 18. Jahrhunderts)3
mitgeteilten Forschungsergebnisse über den barocken Orgelbau in Deutschland
fanden auf direktem Weg erst in der Walcker-Orgel des Saalbaus zu Recklinghausen
sowie beim Bau der von Furtwängler & Hammer in der Göttinger Marienkirche
erbauten Orgel ihren praktischen Niederschlag. Beide Instrumente wurden
1926 unmittelbar nach Abschluss der Freiburger Tagung vollendet. Die
hier gewonnenen, damals neuesten theoretischen (und praktischen) Erfahrungen
fanden bei Planung des Instruments für den Hans-Sachs-Saal erkennbar
Eingang. In der Reduktion ausgesprochen weitmensurierter Grundstimmen,
der konsequenten Disposition charakteristischer, kerniger Prinzipalstimmen
als klanglichem Rückgrat des Labialplenums, nebst einer Vielfalt von
solofähigen Einzelaliquoten sowie in der Vermeidung der Anhäufung von
ähnlich oder gleich klingender Stimmen - in der Weise, dass sich die
einzelnen Manualwerke nur noch durch Lautstärke unterscheiden - setzte
Walcker die in Freiburg erhobenen Forderungen hier in die Tat um.
Die Klangcharakteristik der Werke im Einzelnen
Die Orgel erhielt 91 klingende Stimmen (5841 Pfeifen)
nebst einer Reihe von Transmissionen auf Hauptwerk, vier Schwellwerke
(inkl. Fernwerk) sowie Groß- und Kleinpedal verteilt. Damit war die
Konzertsaalorgel des Hans-Sachs-Hauses eine der größten von Walcker
erbauten Orgeln. Vom vierten Manual aus konnte das auf 16'-Grundlage
aufgebaute Bombardenwerk und ebenso - durch einfache Fußhebelumschaltung
- das in der Dachkonstruktion verborgene Fernwerk angespielt werden.
Bei dieser Umschaltung verstummte automatisch das Pedal der Hauptorgel
und es erklangen die sanften Pedalstimmen des Fernwerks.
Die Klangcharakteristik der einzelnen Teilwerke kann
wie folgt skizziert werden:
- I. Manual (C-c'''')
Fülliger, aber dennoch verschmelzungsfähig-weicher sowie transparenter
Grundklang; die 15 klingenden Stimmen dieses Manuals sind in Mensurierung
und Bauart überwiegend nach Originalmensuren Gottfried Silbermanns
(1683-1753) konstruiert (und intoniert) und sollten somit die Grundvoraussetzung
für ein konzertantes Bachspiel schaffen.
- II. Manual (C-c''''')
Im Kontrast zu Manual I: aufgehellt-flötiger Charakter; das mit 18
Stimmen reichbesetzte Teilwerk enthält sämtliche Obertöne als Einzelaliquote,
lückenlos ausgebaut bis zum 1-Fuß.
- III. Manual (C-c''''')
Leicht streichender Charakter, die Mensuren sind allerdings nicht
so eng gewählt, dass die Verschmelzungsfähigkeit mit den übrigen Teilwerken
infrage gestellt wäre; es enthält 16 Stimmen.
- IV. Manual (C-c''''')
Hier finden sich vornehmlich diejenigen Stimmen, die dem Plenum der
Orgel majestätische Kraft verleihen (in erster Linie die großen Zungen
Bombarde, Posaune, Trompete). Durch diese Aufteilung behalten die
übrigen drei Manuale ihre durchsichtige Klarheit. Unter den 13 Registern
befindet sich als Schlagwerk eine Celesta (Stahlplattenklavier), das
in modernen Orchesterpartituren öfter verlangt wird, häufig jedoch
auch in großen Saalorgeln fehlt.
- Pedal C-g'
Das Pedal ist gemäß seiner doppelten Zweckbestimmung als orchestrales
Bassfundament und als solistisches Orgelpedal mit 19 Stimmen das am
aufwendigsten besetzte Werk der Orgel. Es verfügt über drei 32'-Register;
besonderer Wert wurde auf den Ausbau des Zungenchors gelegt (6 Pedalzungen!).
- IV. Fernwerk (C-a'''')
Dem Fernwerk eignete ein besonders lichter bis ätherischer Klang;
es verfügte über neun Register, darunter zwei Zungenstimmen. Auch
die beiden Pedalregister des Fernwerks sind betont weich intoniert
(darunter eine lyrische Zunge).
Um insbesondere auch vorbachsche Orgelmusik in charakteristischer
Weise darstellen zu können, wurden elf Stimmen teils nach Vorgaben von
Michael Praetorius (1571-1621) und teils nach den alten Mensuren der
Johannis-Orgel zu Lüneburg gefertigt. Die deutsche Orgelbewegung hatte
nicht nur das wiedererwachende Interesse an den alten Meistern, sondern
auch die damit verbundene Wiederbelebung des früh- und hochbarocken
Registerbaus bewirkt. Ein wichtiger orgelbaugeschichtlicher Anstoß ging
hierbei von der 1921 in der Werkstatt E. F. Walcker auf Anregung des
Freiburger Musikwissenschaftlers Wilibald Gurlitt für das dortige Musikwissenschaftliche
Universitätsinstitut erbauten Praetorius-Orgel (22/II/P) aus. 14 weitere
Register (HW) der Hans-Sachs-Orgel wurden - wie bereits erwähnt - nach
Mensuren des Bach-Zeitgenossen Gottfried Silbermann gefertigt.
Die technische Anlage der Orgel
Die technische Anlage der großen Konzertorgel stellt
für sich selbst ein Kunstwerk dar. Die Architekten legten Wert darauf,
dass "ein solches feinsinniges, kompliziertes Werk" aus Gründen der
Funktionssicherheit und zum Schutz vor leichtfertig herbeigeführten
Beschädigungen durch Unbefugte der Allgemeinheit unzugänglich blieb.
Als raumabschließendes bzw. raumkrönendes Schaustück war sie nicht gedacht.
Insbesondere wurde wegen des nüchternen Geists der Gesamtarchitektur
von der Installation sonst häufig gebrauchter Pfeifenattrappen in einem
stummen Scheinprospekt Abstand genommen. Das eigentliche Pfeifenwerk
bleibt somit hinter hölzernen Lamellen vor den Blicken des Publikums
verborgen. Der Klang findet seinen Weg aus den drei gemauerten, geräumigen
Orgelkammern, die eine enorme Schwellwirkung erzielen, durch doppelte
Holzjalousien auf der Stirnseite und den seitlichen Flanken des Bühnenraums.
Das gänzlich unsichtbare Fernwerk leitet seinen Schall durch einen Holzkanal
über der Saaldecke bis zu dort angeordneten Einfalljalousien.
Der Windversorgung dienten ursprünglich drei elektrische
Gebläse, von denen zwei zur Windversorgung der Hauptorgel, das dritte
für das Fernwerk eingesetzt waren. Als einzigartiges Charakteristikum
im deutschen Orgelbau dieser Zeit seien hier nochmals die vier voneinander
unabhängigen Schwellwerke der Orgel zu nennen. Außer dem Hauptwerk und
dem Großpedal befinden sich sämtliche Register (II; III; IV; IV Fernwerk/Man/P)
im Schweller!
Der Spieltisch von 1927
Die gleichfalls durch das Prinzip "Sachlichkeit und
Reduktion" gekennzeichnete Spieltischgestaltung der Hans-Sachs-Orgel
verrät eine Abkehr von den mit zahllosen technischen Accessoires überfrachteten
Spielanlagen der vorausgegangen "Fabrikorgeln". Der klanglich stringenten
Durcharbeitung des Orgelwerks sollte, wie schon durch Cavaillé-Coll
gefordert, eine klare Gliederung des mit poliertem schwarzen Flügellack
überzogenen Spieltischs entsprechen.
Die auf der Bühne zu allen Zwecken frei bewegliche
fahrbare Spielanlage war rein elektrisch ausgelegt. Der Strom für die
elektrische Traktur wurde von einer kleinen Schwachstrommaschine erzeugt,
eine zweite Reservemaschine diente ersatzweise als Sicherung. Alle Koppeln
wurden sowohl als Pistons und in Wechselwirkung mit jenen zugleich als
Druckknöpfe zwischen den Manualen gebaut. Ebenso erhielt der Spieltisch
eine Walze für das Registercrescendo/-decrescendo. Rechts davon waren
die Schwelltritte als Balanciers angeordnet. Erwähnenswert erscheint
für damalige Verhältnisse auch die "automatische Pedalumschaltung",
infolge derer sich die Klangfarbe des Pedals selbsttätig in eine zuvor
frei programmierbare und einem bestimmten Nebenmanual angepasste Registerkombination
wandelt, sobald der Spieler nur eine einzige Taste dieses Manuals berührt;
dazu kamen die üblichen Abstoßer (als Druckknöpfe) zur sofortigen Auflösung
programmierter Kombinationen infolge einfacher Betätigung. Zum ersten
Mal wirkten - aus Gründen optimierter Übersichtlichkeit - in einer deutschen
Konzertorgel alle Spielhilfen "positiv" nach dem "System Jung", d. h.
konsequent positiv nur in eine Richtung.
Würdigung
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Konzertorgel
des Hans-Sachs-Hauses in der wohlkalkulierten Registerwahl, differenzierten
Mensurierung (z. T. nach historischen Originalvorbildern bzw. -quellen)
und der konsequenten Aufteilung des Pfeifenwerks im Sinne des charakteristischen
Werkgedankens den beachtenswerten Versuch einer universalen Konzertorgel
großen Stils darstellte, angeregt durch den Reformgedanken im deutschen
Orgelbau der späteren zwanziger Jahre. Zudem wurde hier eines der wenigen
Instrumente in Deutschland geschaffen, das ohne Abstriche als ebenbürtiger
Partner des modernen Symphonieorchesters größter Besetzung eingesetzt
werden konnte. Die Presse pries nach der Einweihung durch Günter Ramin
(Leipzig) das klanglich und technisch fortschrittliche Werk überschwenglich
als "Wunderorgel".
Das architektonisch kohärent durchgebildete Ensemble
von Hans-Sachs-Haus, Hans-Sachs-Saal und Konzertorgel erfuhr bezüglich
seiner ursprünglich abgestimmten Homogenität im Laufe der Jahrzehnte
diverse Veränderungen. Nachdem die Orgel während des Krieges aus Sicherheitsgründen
vollständig ausgelagert und 1949 von der Erbauerfirma unversehrt wieder
eingebaut wurde - das Einweihungskonzert gestaltete Helmut Walcha aus
Leipzig -, kam es während der Nachkriegsjahrzehnte mehrfach zu Teilumgestaltungen.
1974 erfuhr der Konzertsaal einschneidende innenarchitektonische Modifikationen,
im Rahmen derer das romantische Fernwerk entfernt wurde (der Titularorganist
von Notre-Dame de Paris, Pierre Cochereau, weihte die renovierte Orgel
ein). Dieses Fernwerk wird jedoch während der noch 2001 beginnenden
dreijährigen Restaurierungsphase von Saal und Orgel an seinen ursprünglich
angestammten Ort zurückkehren.
75 Jahre Orgelgeschichte, Auslagerung und Wiedereinbau
nach dem Krieg sowie jahrzehntelanger Betrieb sind an der heute unter
Denkmalschutz stehenden Orgel nicht vorbeigegangen, ohne verschleißbedingte
Schäden zu hinterlassen. Die schadhafte Technik erzwang Renovierungsmaßnahmen,
die Anfang der achziger Jahre unter der Federführung des derzeitigen
Kustos der Orgel, Karl-Heinz Obernier, von der Erbauerfirma Walcker
ausgeführt wurden. Die alte elektropneumatische Traktur wurde 1982 durch
eine dem damaligen Stand modernster Technik entsprechende elektrische
Anlage, einschließlich einem neuen elektrischen Spieltisch mit Setzeranlage
und modernen Spielhilfen ersetzt. Die gültige Dispositionsgestalt datiert
aus dem Jahr 1989. Die vergleichsweise unzuverlässigen Taschenladen
wurden durch mechanische Schleifladen ersetzt, was den Reformintentionen
der geistigen Väter der 20er Jahre zusätzlich entgegenkam. Der historische
Pfeifenbestand der Orgel ist bis auf das Fernwerk in der Substanz nahezu
vollständig erhalten geblieben.
Ausblicke - der Orgelwettbewerb
Im Herbst 2003 werden sich Orgel und Saal nach gründlicher
denkmalgerechter Sanierung wieder weitgehend im Zustand von 1927 präsentieren.
Der geschätzte Kostenaufwand hierfür beläuft sich insgesamt auf knapp
50 Millionen Mark. Dazu wird nicht zuletzt auch die detailgetreue Rekonstruktion
des originalen - bei Bedarf im Bühnenboden versenkbaren - Walcker-Spieltischs
von 1927 in schwarzem Flügellack gehören. Erfahrene Spezialisten (Intonateure)
sollen gemeinsam mit der Firma Walcker (Kleinblittersdorf) die sorgfältige
Klangrestaurierung und die Neuintonation des auch künftig auf Schleiflade
stehenden, fast hundertregistrigen Riesenwerks besorgen. Damit soll
den sechs Teilwerken mit ihren knapp 6000 klingenden Pfeifen der einstige,
nachromantische Klangzauber möglichst in vollem Umfang zurückgegeben
werden, der dem Instrument einst die respektvoll-staunende Bezeichnung
als "Wunderorgel" eingetragen hatte.
Schon in den zurückliegenden Jahrzehnten genoss das
Instrument in der Fachwelt den Ruf einer geradezu idealen Reger-Orgel
und dient der Stadt Gelsenkirchen seit 1993 als würdiges Austragungsinstrument
des im dreijährigen Turnus veranstalteten Internationalen Orgelwettbewerbs.
Insbesondere dieser große Wettbewerb, der sich 1999 zum dritten Mal
seit der Gründung durch Karl-Heinz Obernier breitester internationaler
Resonanz erfreut, dürfte von der gegenwärtig ins Werk gesetzten Sanierung
von Saal und Orgel in großem Umfang profitieren, wenn es dann mit Recht
heißen wird: Die schönste und größte Saalorgel Deutschlands steht heute
im Hans-Sachs-Saal in Gelsenkirchen.
Anmerkungen:
1 Wilhelm Kästner: "Das Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen
und das Verwaltungsgebäude des Ruhrsiedlungsverbands in Essen", Vorwort
in: "Moderne Bauformen" - Monatshefte für Architektur und Raumkunst,
1930, Jahrgang 29, S. 149-152.
2 ebenda, S. 150.
3 Bärenreiter 1926.
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